Über die Autorin
Buch

POESIE
PROSA  
ESSAY
Reise nach Brjansk.
Eine bescheidene Chronik
Gewidmet sind diese demütigen Eindrücke dem bekannten Reisenden nach Petuschki, dem empfindsamen Reisenden durch Südfrankreich, dem unglücklichen Reisenden von Petersbrirg nach Moskau und dem frommen Reisenden von Paris nach Jerusalem sowie allen anderen Meistern dieses Genres.

„Schreib gleich ins Reine, lmpromptu, ohne Selbstgefälligkeit, und schau, was dabei herauskommt, wenn du so schnell schreibst, wie du sprichst, ohne jegliche Ansprüche; nur wenige Autoren tun das, denn ihre Eitelkeit läßt sie immer wieder zur selben Stelle zurückkehren und anstelle eines Wortes ein anderes setzen."

3 Mai 1817, Konstatin Batjuschkow

„Eine Erde haben wir,
Einzig ist sie und so ganz
Doch den schönen Schwanensang
Braucht kein Volk, kein Land!"

Gedicht eines Brjansker Poeten, ebendort vertont
1. Das Wetter

Nur zu Frühlingsbeginn und ganz spät im Herbst ist es wirklich poetisch, eine Reise durch Mittelrußland zu machen. Ich sage das ohne jegliche Bosheit — anders als der Marquis de Custine und sofern man den „widerlichen Abgrund rundum" überhaupt für poetisch halten kann. Dabei sind die paar Wochen im November und im März noch das harmloseste Symbol des Abgrundes, Generalprobe der Sintflut, jener Fluten, die nach Tjutschew irgendwann alles Lebende wieder überdecken. Angenehme Vorstellung, daß diese Generalprobe gerade in unseren Breiten erfolgt ... „Obschon daraus, nebenbei gesagt, mcht im geringsten folgt, daß Patriotismus nur bei schlechtem Wetter entsteht." („ Winterliche Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke", Dostojewski) Tatsächlich angenehm ist es aber, daß diese Witterung, ganz im Unterschied zum Theater des Weltunterganges, eigentlich nichts Bedrohliches an sich hat, sie bewirkt nur Schwermut, Verkühlungen und Stillstände im Tagesablauf, lauter poetische Dinge. Bei solchem Wetter ist es schon eine Abwechslung wegzufahren, und sei es nach Starye Bobowitschi, wie das mein Nachbar tut. Frühmorgens, wenn es gerade dämmert, setzt er sich in den Bus und fährt in der Gegend herum, ins ('e misch der Elemente — Erde, Wasser und Luft. Vor dem Fenster immer dasselbe Spektakel: das Licht ist verschwunden, die Töne sind erstorben, leden Tag ein und dieselbe Finsternis, im Kopf breiten sich graue Schatten aus — ein Bild wie bei einem Schwarzweißfernseher mit schlechtem Emfpang (kaputte Antenne). Du fährst herum und überlegst, wer eigentlich noch am Leben ist und wer in Starye Bobowitschi schon gestorben ist. Und was wäre, denke ich beim Anblick der blaßlila Hyazinthe, dem tieschenk der lieblichen Francesca, wenn man dieses Wetter über dem Ewigen Rom niedergehen ließe? Ein Gedanke, der mich — wie die Muschiks am Anfang der „Toten Seelen" — lange nicht mehr losläßt ... Das würde allein schon genügen, um das Forum, all die Kollonaden, Gärten und Bögen in ein Reich unendlicher russischer Untertänigkeit zu verwandeln. Und außerdem ist Rom nicht das Elysium, und auch dort hat man seine Mittel, um die Demut zu lehren. Wozu denn brauchen wir Rom? In den kommenden Jahren werde ich es ohnedies nicht zu Gesicht bekommen, was vermutlich besser ist, als es zu sehen wie einen beliebigen Bekannten. Über Rom bin ich also nicht beunruhigt. Man sieht nur ein paar Schritte weit, und das, was im Umkreis hervorlugt, täte besser daran, überhaupt unsichtbar zu bleiben. Solange wir uns nicht zu Tode gesoffen haben, sonstwie untergegangen oder übergeschnappt sind, werden wir jedenfalls nicht aussehen wie diese Mauern, Plakate, Straßenschilder, rheumatisch verkrüppelten Straßen, Autos und das sonst noch herumliegende Gerümpel. Alles knarrt, tränt, besudelt sich gegenseitig. Jeglicher Verstand muß sich für lange Zeit verflüchtigt haben, um eine derartige Herabgekommenheit entstehen zu lassen. Prinz, ihr Strumpf ist schmutzig, aufgerissen! In dieser Häßlichkeit liegt aber auch eine tiefe Nachdenklichkeit — Nachdenklichkeit über nichts oder über das Nichts wie jene des Walsingham am Ende des Stückes. Einige Nebensächlichkeiten und Details dieser Nachdenklichkeit könnte man benennen. Also, es ist widerwärtig, trostlos, unangenehm. Aber warum sollte es auch besser sein? Ist es nicht besser so? Die Erde ist ein traurig Ding, und unter anderen Umständen langweilt sie sich, sie braucht wohl etwas von dieser Art, denn auch die Seele ist eine traurige Angelegenheit.

Dieser letzte Gedanke stammt nicht von mir. Geäußert hat ihn, weit besser als ich es könnte, der Natschalnik der Bezirksgesellschaft der Bücherfreunde. Wie bei Sowchosdirektoren üblich, wurden wir in einem GAS chauffiert. Daß Sie da immer so traurige Sachen übersetzen, das hängt wohl mit dem Charakter zusammen? Na ja, bei den Dichtern gibt's überhaupt immer viel mehr Trauriges, bei Lermontow, bei Jessenin ... Warum eigentlich?

Sogleich hat er auch eine Antwort:

— Die Poesie kommt aus der Seele und aus dem Herzen. Und Seele wie Herz gehören zur Kategorie der traurigen Dinge... ebenso die Liebe ... damit hat selten jemand Glück ... die Dichter schreiben ja auch vor allem über die Liebe.

Das mit dem Natschalnik nehme ich, wie auch das Wetter, in meiner Erzählung vorweg. Eine Witterung wie ich sie liebe. Es begann schon in der Früh, die ganze Nacht über war aus dem Zug der klassische Winter zu sehen, nur der Schnee wie in den Opern fehlte. Die schlechte, jedoch inbrünstige Romanze irgendeines Emigranten beschreibt diesen Winter vermutlich besser, als Wjasemskis prunkvolle Elegien:


Im Schnee versunknes Russenland,
Ein Eisessturm hat dich überrannt,
liegst in unsichtbarer, großer Hand —
Schnee in Massen ist der Tod im Land.


Der Ausdruck „Rußland" klingt für einen heutigen Dichter beinahe unanständig. Er gehört zur sei en Kategorie wie „feurige Morgenröte" oder dergleichen. Dumpfe Gemütswolken umgeben ihn, verquere und gefährliche Emotionen. Wenn es nicht gerade um die Sprache des Gedichts geht, verstehen wir das Wort „Rußland" aus historischen Gründen wie aus der Emigration; es ist, als käme es geradewegs von dort her (natürlich nur, wenn es sich nicht in einem Hotel von Pasochin einquartiert). Ich vermute jedoch, daß man auch früher, als das Land noch Rußland hieß und nicht bloß aus fünf Buchstaben bestand, genauso darüber dachte. Vermutlich seit der Zeit des Dritten Rom. Das heißt, eben nicht naiv, sondern sentimentalisch. Wo ist eigentlich der Ort, an dem man nicht darüber sprechen müßte! Möglicherweise nur dort, wo überhaupt nicht gesprochen wird (diese Antwort ist nebenbei auch sentimentalisch.)

— Ich werde deiner Alten sagen, daß du nicht geschlafen hast.
So scherzten zwei Nachbarn aus Bobowitschi miteinander.
— Meiner Alten kannst du alles sagen, sag ihr, was du willst.
— Woran ist sie denn gestorben?
— Vor acht Jahren.

Interessant, wie schnell sie einander verstehen. Sobald es heißt — „du darfst alles sagen", bedeutet das „gestorben". Er schlief die ganze Nacht nicht, saß da und schaute. Eigentlich gab es dort nichts zu sehen, dennoch löste er den Blick nicht von der Abteilwand. So kann sich ein Blick im Wasser verlieren. „Die Newa weiß von vielen Augen des geheimen Abendmahls." Moskau weiß viel, und viel weiß Starye Bobowitschi. Er glich dem Phonetikprofessor, meinem Universitätslehrer, der als „Heiliger des Sowjetlandes" bezeichnet wurde. Er war ihm nicht nur ähnlich, er war einfach sein volkstümlicher Doppelgänger. Augen des Abendmahls. Die Fichten im Fenster, riesige dunkle Felder, die Lichter auf den Bahnhöfen und sonderbare, durch die Lautsprecher und die Nacht verzerrte Stimmen auf den Bahnsteigen — all das kam mir vor, als würde es sich aus dem Raum herauslösen, wegfliegen, ein kurzer Traum, bildlos, leer. Was all das bedeutet? Das weiß jeder oder niemand. Und deshalb werden wir es auch nicht weiter präzisieren.

Es war der Vorabend von Gogols Geburtstag. Der bereits zitierte Natschalnik hatte sogleich festgestellt:

— Gogol mußte natürlich am ersten April geboren werden! Fehlt nur noch, daß auch Saltykow-Schtschedrin am ersten April... obwohl ... Saltykow-Schtschedrin und der erste April, das wäre auch nicht schlecht.

Ich hatte das Gefühl, als würde mich eine geheimnisvolle Kraft dazu drängen, Chlestakow zu ersetzen, doch die Buchhalterin der Gesellschaft der Bücherfreunde sah in mir offenbar einen anderen, jenen im rauchfarbenen, wie Kaviar glänzenden Wollmantel. Derart sonderbare Annäherungen wie im Fall dieses Geburtstages kommen mitunter vor, wobei die merkwürdige Abfolge der Ereignisse nicht bedeutet, daß diese nicht stattgefunden haben (so Alexander Pjatigorski in seiner Vorlesung über Gauthama Buddha). Manchmal denkt das Leben genauer über die Komposition der Ereignisse nach als die Erzählung. Natürlich geht es hier um eine Ordnung ganz anderer Art als im Leben des Gauthama, und sie bedarf auch keiner besonderen Rechtfertigung, aber trotzdem — man gerät in eine Gogolsche Landschaft, reist in einem Gogolschen Transportmittel durch eine Gogolsche Architektur, und — schrecklicher als alles Bisherige — man wird für „die nicht gerade erfreulichste seiner Figuren" gehalten. Wenn das dazu noch an seinem Geburtstag geschieht, übersteigt es wirklich alles. Der geheimnisvolle, längst verstorbene Satiriker, der bekanntermaßen eine Vorliebe für Begräbnisse und Maskeraden gehabt hatte, zwinkerte von den Denkmälern und Kanzleitischen her. Seine Nase war lang und dünn, so beweglich, daß er ihre Spitze, wie sich seine Zeitgenossen erinnerten, nach links und rechts, nach oben und unten bewegen konnte. Dasselbe tat der Igel meiner Gastgeberin mit seiner Nase. Überdies wurde der Igel „Stachel" gerufen, eine Abkürzung von „Stacheldraht". Auch der Igel stammte von Gogol. Also, der Zug kam in Brjansk an.

2. Ein Stich von Dürer

Die Person, die mich abholte, war mir unbekannt, doch wir erkannten einander sofort. Wie sollte man einen guten Musikanten auf dem Perron des Brjansker Bahnhofs auch nicht gleich erkennen. Natürlich erkennt man ihn auf den ersten Blick! Erstens zeichnet diese Gesichter Verhaltenheit aus, zweitens grundlose Angst. Weniger Angst um sich selbst, als vielmehr davor, daß das Dschungelwesen des Sowjetalltags in all seiner Pracht und Macht hinter den verhältnismäßig ruhigen Vorhängen unvermittelt hervorbricht, was in jedem beliebigen Moment geschehen kann ... Ach, wer könnte beschreiben, welcher Abgrund sich vor diesem Menschen, einem Vertreter der „schöpferischen Intelligenzija", schlagartig auftut, wenn er mit „Genosse Petrow!" angesprochen wird? Es ist unwahrscheinlich, daß ihm ernsthaft etwas angetan wird, vorerst ist das ausgeschlossen, aber der Schrecken beginnt wie ein Sumpf zu blubbern, der Schrecken der verdrehten Wörter und geschmähten Schönheit, unwiederbringlich eingetragen ins Buch der „veralteten Begriffe" wie Ehre, Ehrlichkeit und Würde. Darin schlägt man zwar noch manchmal nach, aber eigentlich ist all das schon zu vergessen. Die Welt ruht bekanntlich auf dem Bösen auf. Allerdings sind unsere „schöpferische Intelligenzija", die „Kulturarbeiter" und die „verdienten Kulturschaffenden" wie der mich abholende Mensch fast gänzlich von den traditionellen Formen des weltlichen Übels verschont geblieben — vom Dienst am Mammon um des Luxus willen, auch von jenen Verführungen, die Vergnügen versprechen, oder den Anstrengungen der Selbstbestätigung, an deren Ende die Entschädigung für langwierige Mühen steht usw. usf. Sein Dienst am Mammon (und auch meiner) ist ein Sonderfall und bedarf einer gesonderten Untersuchung. Auf welche Weise zeigt sich der Mammon eigentlich? Ich glaube auf folgende: im Versprechen, die Dinge nicht ins Extrem zu treiben und außer Kontrolle geraten zu lassen. Ich spreche hier nur von jenen „Vertretern der Wissenschaft und Kunst", die wissen, was Wissenschaft und Kunst tatsächlich sind, die auf jeden Fall wissen, daß es sich dabei nicht darum handelt, was sie als solche anzusehen gezwungen sind. Für alle anderen blühen ja die traditionellen Verführungen des Mammons wie immer. Pasternak hat allen Ernstes erkärt: „Nein, nicht Sie, ich bin der Proletarier." Auch ich war seiner Meinung, bis ich ernsthafter darüber nachdachte. Nein, nein, Boris Leonidowitsch, kennen Sie die Definition des Proletariers etwa nicht? Er hat nichts zu verlieren als seine Ketten, doch ist er es, der die ganze Welt gewinnt. Wir haben nichts zu gewinnen, wobei dieses Gefühl niemand je als proletarisch bezeichnet hat. Und zu verlieren haben wir viel, sogar sehr viel. An die glückliche Ahnungslosigkeit, was unseren Reichtum betrifft, erinnern wir uns nicht mehr („Wir dachten: arm sind wir, wir haben nichts ... Und als wir dann begannen zu verlieron ..." Anna Achmatowa). Viel, sehr viel kann man noch verlieren. Dabei spreche ich nicht einmal von den Bedingungen des Weiterlebens oder vom Recht, als zurechnungsfähig zu gelten und von den Mitbürgern nicht als CIA-Spion angesehen zu werden, ich spreche auch nicht vom Boomerang des Unglücks, der in weitem Bogen über Verwandte und Bekannte hinwegfegt. Ich meine vielmehr die Vernichtung unserer Aufgabe, daß man in Sowchosen keine Wiener Streichquartette mehr aufführen darf, was mein Gastgeber tut, den Studenten nicht mehr Rilke vorlesen oder keine Manuskripte mehr herausgeben ... Das ist das unwiderstehlichste Argument unseres Mammons. Aber zurück zur Sache — sonst komme ich nie mehr dazu, die drei Tage in Brjansk zu beschreiben.

Im nächsten Jahr feiert Brjansk seinen eintausendsten Geburtstag, Johann Sebastian Bach den dreihundertsten. Einen Moment noch, eine Sekunde. Ach, wie möchte ich — und nicht nur ich allein — dasitzen, mich in aller Ruhe mit meinem Gewissen unterhalten. Wo ist denn das Kämmerchen, irgendeine Küche, um einfach Tee zu trinken, ruhig zuzuhören und leise zu widersprechen, denn jetzt sitzt dir kein Tier mit mächtiger Pranke gegenüber, sondern ein kluger Erzähler, der niemals mit dir übereinstimmt, mit dir nicht im geringsten einverstanden ist, wie zum Beispiel im Fall der Erzählung über die Geschichte des Streichquartetts, die meine Ignoranz ganz und gar nicht verdient. Möglicherweise hat sich Johann Sebastian auf diese Art mit seinem Gewissen unterhalten. Ich rede mir kein Idyll ein, nein, aber das wäre tatsächlich eine unerhörte Neuigkeit! Unser Gewissen ist insofern schrecklich, als es immer wieder dasselbe sagt, ein-und-das-selbe, genau dieselben Wörter. Und die schönen Erzählungen des Gewissens sind vermutlich auch nicht weniger qualvoll, zeigen sie doch in allem eine noch viel größere Unverhältnismäßigkeit mit dir selbst auf. Die Größe des Gewissens verwundet jedoch auf heilsame Weise: „Seid endlich vollkommener, so wie ..." Mein Gewissen beschreibt — oh wie es schreibt! — ein ganz anderes „Wie": das, eines einfachen Menschen, eines erwachsenen Menschen, der keine Angst hat. Entschuldigt uns etwa die bedrängende Dürftigkeit der Almosen, die der Mammon verteilt. Lächerlich, wenn irgend jemand denkt, sie würde uns entschuldigen. Was wir jetzt bekommen, wird in zwanzig Jahren keinen mehr interessieren. Geht es uns denn heute etwas an, welches Honorar Gorki für seinen Aufsatz über den bekannten Erziehunsgkanal zugeteilt wurde? Vergessen wird man aber nicht, was wir gegeben haben. Und wir geben alles, so ist das mit dem Mammon immer. Auch die Stadt Brjansk mit ihrer mehrere tausend Mitglieder zählenden Gesellschaft der Bücherfreunde. Und was sonst noch? Folgendes. Natürlich ist es um das Leben schade. Aber das Mitleid kann man schon aus bloßer Eitelkeit einfach nur hinunterschlucken. Und die anderen? Jeder ist an zwei Gesamtbürgschaften gebunden. Die erste heißt „einer für alle" — gegen den gemeinsamen Feind, gestern war es der Formalismus, heute ist es Reagan, es geht nicht darum, wer gerade der Feind ist, sondern darum, daß der, der „nicht für alle" ist, für den Feind ist. Und die andere — ich würde sie nicht gerade als Gesamtbürgschaft für das Gute bezeichnen, wirklich nicht. Ich erkläre es besser an einem Beispiel. Wenn ich heute Abend im Klub nicht das richtige „für alle" lese oder sage, so werde nicht ich das zu verantworten haben, sondern der freundliche Mensch, der mich eingeladen hat. Ja, und nicht einmal er hat es zu verantworten, sondern der Klub, in dem es künftig keine Lesungen mehr geben wird, oder in dem vielmehr nur noch solche Lesungen stattfinden werden, die besser nie stattfänden. Wenn ich jedoch etwas sagen würde, das ich vor meinem Gewissen tatsächlich rechtfertigen könnte wie der Thomaskantor, dann wäre ich ein wirkliches Schwein. Und ich bin ja auch schon so ein ziemliches Vieh, da ich das Ganze zu Papier bringe. Urteilen Sie also selbst über diese Gesamtbürgschaft des Guten.

— Was darf man denn eigentlich nicht tun?

Darüber sprechen wir auf dem Weg vom Bahnhof — meine Erzählung hat sich also ein Stück weiterbewegt.

— Also, das wissen Sie doch selbst. Sie haben ja Erfahrung mit öffentlichen Auftritten ...

Habe ich, aber das ist eine andere Geschichte.

— Nichts über Gott, das ist verboten. Über die Modernisten ... na ja, über weniger bekannte, das geht. Was quälen Sie mich auch. Ich mag diese Rolle gar nicht ... usf.

Die Gesprächspartner sind den Tränen nahe.

— Ich habe etwas anderes erwartet.

— Ich auch. Was ich vor allem nicht wollte, war, Sie zu beleidigen.

— Das wollte ich auch nicht. Ich bin auch nicht beleidigt. Ich schwöre, es wird nichts außer Übersetzung geben. Nur Übersetzungen von sehr alten Gedichten.

— Jetzt sehen Sie, wozu ich Sie bringe. Nein, nein, machen Sie, was Sie wollen.

— Gut, ich werde also folgendes tun ...

Ein mächtiger Effekt.

— Nein, nein, ich scherze nur.

— Aber warum denn ...

Ist es vielleicht langweilig zu lesen? Was ist schon dabei? Trotzdem war es bis zum Abend im Klub, dessen Vorbereitung schon am Bahnhof begann, noch ein ganzer Tag, überdies stand noch das Haus der Pioniere bevor. Was es mit dem Haus der
Pioniere auf sich hat, erkläre ich später.

Wir bereiteten uns in einer leeren Wohnung mit einem einzigartigen Grundriß auf den Abend vor. Das einzige Zimmer war zugleich Korridor zur Küche.

Hiermit bestätige ich, daß es genau so aussah, „alles für das Wohl des Menschen, alles im Namen des Menschen".

Nebenbei würde ich sehr gerne über das Interieur der Wohnungen und Diensträume in unseren Gebäuden sprechen, wo alles „im Namen von" geschieht. Poesie und Poetik des sowjetischen Korridors, des Festsaals, der Küche usf. würde ich auf diesel e Art und Weise beschreiben, wie Prof. Lichatschow, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, die Poetik der Gärten beschrieben hat ... Ja, und unsere Parks wären nicht schlecht dafür geeignet! Man denke nur an den Brunnen der Freundschaft in der WDNCH oder an die Allee im Gorkipark. „Der Dichter im Garten ... "Wer kommt hierher? Wer geht schon zwischen den Mädchen mit dem Ruder und den Mädchen mit dem Riemen, neben marmornen Pluderhosen und zwischen Kultur und Freizeit und drohenden Blaufichten spazieren? Diese Baumreihen gleichen einer Kremlmauer, man könnte glauben, es handle sich um Schießscharten, an die sich ein zusammengekniffenes Auge drückt: Sing, Dichter, sing! Sing, wie die satten Pferde mit den Hufen trappeln. Sing: ach du, jugendliche Freude, unmögliche! Wer geht hier mit einem Heft voller Gedichte ... wohin geht er ... Wer schleicht den Korridor der Kommunalka entlang? Der Vernaderer? Ein Naturalist? Absurdist? Wer geht in einer so mickrigen Wohnung herum? Wer geht auf den Korridoren der gläsernen Universität, wo es keine Sessel gibt, keine Aufenthaltsräume, wo man nirgendwo — genau so war es ja gedacht — ein Wort miteinander wechseln kann. Jemand geht da, irgendwer geht da dahin. Ein Gespenst geht um — das ist es. Das ist seine Wohnung, das ist sein Park. Die Symbolik des Parks vermittelt die Idee des Paradieses. Die Emblematik des sowjetischen Interieurs und Exterieurs — nein, nicht die der Hölle. Es gibt ein genaueres Bild: die Stiege ins Vergessen, in den literarischen Tod, in das allgemeine namenlose Grab. Aber zum Teufel mit ihrer Planung! Kehren wir in unsere Wohnung zurück.

An der Wand hängt das Plakat für eine Dürer-Ausstellung, zu sehen ist der Ausschnitt eines Dürer-Stiches. Dürer! Dürer! Warum haben sie denn dich hier hereingelassen? Warum haben sie das erlaubt, diesen aufrührerisch-gedankenvollen Strich durchgehen lassen, über den es tatsächlich etwas peinlich wäre zu sagen: „einer für alle"? Es würde einem dabei nicht ganz leicht ums Herz. In der Hauptstadt gibt es zum Beispiel folgendes Plakat: „Um besser zu leben, muß besser gearbeitet werden." Nichts daran ist falsch, gleichsam aktuelle Worte. Du sagst, du lebst schlecht, es gefällt dir nicht? Und wie arbeitest du selbst? Schon senkt der Mensch den Kopf wie Ovid. Es heißt, er habe auf seine Frage, warum man ihn verbanne, die Antwort erhalten: „Du weißt selbst, warum." Sogleich gab er es auf, sich weiter zu rechtfertigen, doch dem künftigen Leser schrieb er in seinen Briefen aus Tomi, seine Schuld hätte zumindest in keinem Verbrechen bestanden. Wie es scheint — ein vernünftiger Hinweis. Aber versuchen Sie einmal diesen Aphorismus neben dem Stich von Dürer auszusprechen ... oder neben einer Beethoven-Sonate ... in Goethes Anwesenheit ... Nein, irgendwie ist das peinlich. Und dennoch ist Dürer hier. Offenbar läßt sich nicht alles kontrollieren. Vermutlich handelt es sich um ein Fragment aus der „Apokalypse".

3.Hafen an sieben Meeren

In gewisser Hinsicht gibt es in der Nähe Moskaus keine Meere, doch handelt es sich dabei nur um eine oberflächlich geographische Auffassung. In einem tieferen, dialektischen Sinn gibt es diese Meere. Und mit einer solchen Geographie könnte ich mich auch zufriedengeben. Allerdings kenne ich die Geschichte nicht im geringsten. Von Leuten, die sich in ihr auskennen, hörte ich einmal, daß sich die Menschheit in Theorie und Praxis des Verunstaltens ihrer Umgebung nicht besonders weiterentwickelt hat, daß es, grob gesprochen, immer alles auch schon gab. Daß die Menschen aller Zeiten ihre eigene Zeit genau dafür hielten, wofür ich unsere heutige Zeit halte — für absolut niederträchtig. Zwar relativiert die Lektüre von Tacitus, des schon genannten Custine oder Saltykow-Schtschedrins meine Abneigung, allerdings nicht besonders nachhaltig. Gerade weil ich also die Geschichte praktisch nicht kenne, betrachte ich unsere Zeit als über alle Maßen niederträchtig.

Die Töchter meines Gastgebers lernen Klavier, die Mädchen sind ziemlich talentiert. Die ältere spielt mit ihren dreizehn Jahren sämtliche Etüden von Chopin, die jüngere, elf, Bachs dreistimmige Fugen. Da es talentierte Kinder sind, erteilt man ihnen einen besonders ernsthaften Musikunterricht. Und da ihre Eltern, meine Gastgeber, Musiker sind, sind sie damit nicht sehr zufrieden. Ich will aber nicht von deren professioneller Unzufriedenheit sprechen, sondern von meiner persönlichen Kränkung, mag es sich dabei auch nicht um die allerschwerste der hiesigen Kränkungen handeln. Die Rede ist vom „Notenbüchlein der Anna Magdalena Bach". Diese Stücke lagen nicht nur jenseits meines Auffassungsvermögens, schlimmer noch, für das musikalisch untalentierte Kind wurde Bach zu reinen Strafe. Also, die Partitur wird bei uns zwar gedruckt, in verschiedenen gekürzten Fassungen, aber stets ohne Text. Die Arien haben keine Bezeichnungen, nicht einmal auf deutsch. Und jetzt überlege ich, was diese Wörter in mir damals wohl bewirkt hätten: O Ewigkeit, du Donnerwort ... Schaffs mit mir, Gott, nach deinem Willen ... Gedenke doch, mein Geist, zurücke ans Grab ... usf. Hätte ich doch gewußt und all die anderen zahllosen Kinder, denen das Notenbüchlein nicht erspart geblieben war, was Bach einem angehenden Musiker unbedingt mitteilen wollte. Und viel mehr noch, daß es so etwas gibt und gab, einen Gott nämlich, daß es einen Gott geben kann. Man darf sie nicht vergessen, die zahllosen schwachen und schemenhaften Hände, die jedes Kind zu diesem Irgend-Etwas hinstreckt und das in der Musikstunde mit dem Wort Gott bezeichnet worden wäre, allzumal ihn niemand in der Muttersprache so genannt hätte. Ich spreche dabei nicht einmal von jenem Bach, wie ihn Albert Schweitzer gesehen hat. Gut, das ginge noch, aufgrund der Herabgekommenheit der Zeit ist das eine Angelegenheit für Spezialisten geworden. Aber wer dürfte sich dieser Macht am Ursprung jedes Menschen bemächtigen? Über allen Epochen und allen Werken diese Macht zu verderben, zu zerstören, zu falsifizieren, sogar die Stücke für Kinder, die zweihundert Jahre alt sind ... Ja, und wenn mir der Text des Notenbüchleins dennoch bekannt wurde, dann aufgrund derselben Unachtsamkeit, aus der auch Dürer an der Wand hängt. Was die Einstellung zur Kunst betrifft, so wurde bei uns als Ideal die Taktik der verbrannten Erde erfunden, ein ebenso konsequenter Krieg wie der gegen die Religion. Aber ich höre schon — Daß Sie sich nicht schämen!... und die Museen, die Preisträger der Wettbewerbe, die millionenfachen Auflagen?... Na und, sage ich, die Pracht der Kirchen, die Empfänge im Patriarchat ... Die Macht des Glaubens und die Energie der Kultur — dagegen wird bis zum letzten gekämpft. Der in diesen Institutionen verbliebene Rest hilft dabei sogar, kämpft mit. Sehen Sie, wie Puschkin geschrieben hat — und was tun Sie ... Trennt man vom Leben das Meer der kulturellen Schöpfungen, kann man aussortieren, was am Ufer noch übrigbleibt ... Rigoletto, Pas de deux ... Bloßes Dessert, ein Säulenplatz nach dem festlichen Teil. Kaum nimmt die Kultur — und zwar unfreiwilligden — denn ihr gebührenden Platz des Richters über den festlichen Teil ein, schon tritt ein Schdanow auf und belehrt Schostakowitsch über die Gesetze der Melodik. Ach, ich möchte nicht an das Martyriologium der ermordeten Kulturschaffenden erinnern, möchte mich nicht aus Brjansk in andere Zeiten entfernen ...

Warum ist eigentlich überhaupt etwas übriggeblieben — wenn auch ohne Text, aber Bach wird immerhin noch unterrichtet? Wegen der Feinde, das ist der Grund. Die Rettung eines Teiles der Kultur verdanken wir ausschließlich unserem Feind. Für ihn wachsen die Preisträger der Klavierwettbewerbe heran, werden Ausstellungen wie Moskau — Paris veranstaltet, restaurieren sie das Danilow-Kloster, für ihn geben sie Mandelstam heraus — natürlich nur für den „friedliebenden" Teil des Feindes. Den Rat, unseren Feind zu lieben, brauchen wir nicht, es ist umgekehrt — je mehr Feinde es gibt, desto mehr Kultur. Darin besteht der Unterschied zwischen dem Hafen an den sieben Meeren und Brjansk, das der Feind niemals zu Gesicht bekommen wird. In Brjansk gibt es gräßliche Aufschriften. Ich spreche nicht von den Losungen auf den Plakaten, ich meine die Geschäftsbezeichnungen. HÄUSLICHE KÜCHE — das ist in einer Schrift geschrieben, die dich sofort zur Verantwortung zieht, sogleich erinnerst du dich, daß du, egal ob du das Kotelett kaufst oder nicht, eine Bürger- und Patriotenpf licht zu erfüllen hast, gib acht, erfüll sie wachsam! Der Feind schläft nicht, und in jedem Moment ist unser Leben ein Kampf und ein Staatsgeheimnis. Genau das besagt die Aufschrift über dem Geschäft für die „häusliche Küche". Ganz zu schweigen von den Denkmälern, aber ...

— Schauen Sie, das ist der Hügel der Unsterblichkeit. Wie überall wurde einer errichtet, Sie wissen schon ...

— ?

— Jeder Bewohner brachte eine Handvoll Erde. Nicht eine Handvoll, sagen wir eher einen ganzen Sack. Die Leute marschierten von vier Seiten auf. So war das.

Nein, in Moskau gibt es so etwas nicht. Unsere Rituale sind bescheidener, bei uns kommt es zwar auch vor, daß man über Dürer diskutiert, noch mehr als über Dürer wird über Heidegger oder Thomas von Aquin diskutiert. Wenn einem von den heimlichen, zweideutigen Diskussionen und der Malaja Grusinskaja nicht übel wird, kann man auch in Moskau leben. Überdies, leben kann man ja auch in Brjansk. Allerdings würde mich eines interessieren: Kommt Moskau nach Brjansk oder bewegt sich Brjansk in Richtung Moskau, oder vermischt sich alles, wie dieser Schnee und das Wasser, die Sintflut und die Erde ...

4. Hamlets Flöte

Iwan Petrowitsch, geben Sie ihnen Ihre Flöte zurück. Und Sie, Mark Ossipowitsch, Ihre Geige! Herausgeber des „Notenbüchleins der Anna Magdalena Bach", sollen sie sich doch selber durch die verschiedenen Varianten durcharbeiten, die Tonarten selbst überprüfen und das Melos herausfinden! Sollen sie doch auf unseren Geigen einmal selbst spielen, wenn sie schon alles besser wissen. Übersetzt euch das irische Epos selbst, wenn ihr seine klassenspezifischen Grundlagen so genau kennt. Oh — natürlich ist es leichter, mit uns zu spielen — Hamlet, Ihr habt umsonst dagegen opponiert. Daran besteht kein Zweifel mehr.

No, I am not Prince Hamlet, nor was I meant to be (T. S. Eliot).

Die Zeit ist nicht für Hamlet, denn die objektiven Voraussetzungen ... Erinnern Sie sich an Shakespeares Text — Sie werden zustimmen, für all seine Figuren, samt der engsten Freunde des Prinzen, war es nicht die Zeit der Hamlets, und die objektiven Voraussetzungen in Helsingör ... Wenn dieses Gepenst nicht wäre.

Der gequälte Geist denkt sich tausend verschiedene Lösungen des Problems aus, wie die Flöte zurückzugeben ist (aber nein, nicht der Geist, vielmehr das Rückenmark) — keine einzige Lösung ist gut. Thomas Mann, fällt mir ein, schrieb einmal, es wäre ein Verbrechen unter einem Kulturminster Göring „Fidelio" zu dirigieren. D. h., man sollte zu einem anderen Kulturminister gehen. Mit einem Wort, es muß etwas getan werden, etwas, irgend etwas. Muß — damit man auch dich, endlich, um die Ecke bringt wie jenen Prinzen. Von dieser einzig möglichen Antwort wendet sich der Geist ab und dreht sein Roulett weiter.

Ich gehe also zum Pionierpalast. Das Fest der Kinderbücher. Seit langem habe ich weder Pioniere noch deren Paläste gesehen, seit der Kindheit, seit zwanzig Jahren. Mir kommt das Literatur-studio im Haus der Pioniere in der Stapanin-Gasse in den Sinn. In diesem alten Studio studierten bekannte sowjetische Poeten, Prosaiker und Humoristen. Die Krupskaja hat es einmal besucht. Aus diesem Anlaß wurden neue Stühle gebracht. Die Kinder lasen der Reihe nach ihre Gedichte über Spanien vor, N. K. hörte zu, vor lauter Aufregung wetzten sie alle auf den Stühlen herum und fielen runter. Das ergab ein ziemliches Durcheinander, erzählte unsere Lehrerin. Am Mittwoch und Freitag lernten wir das Schreiben von Gedichten und Erzählungen, wir traten im Fernsehen auf und nahmen an Wettbewerben teil. Allerdings lasen wir keine Bücher, das nicht. Wenn einer der jungen Poeten Blok kannte, so durch seine Eltern. Dann durchtrennte Chruschtschow das Band zur Eröffnung des neuen Palastes auf den Leninbergen, des gläsernen Gebäudes und für die damalige Zeit von schreiender Modernität. Am Tag der Eröffnung brannte die Sonne herab, die Kinder, die auf dem Rasen in Reih und Glied Aufstellung genommen hatten, fielen abermals — in Ohnmacht. Es gibt sonderbare Annäherungen. Bei dieser Gelegenheit handelten die Gedichte von Kuba, wohin alles andere dann auch exportiert wurde: Wera Iwanowna, die Wettbewerbe, die Gedichte zum Thema Natur, Eroberung des Kosmos und die Jubiläen. Allein — alles ist noch nicht alles. Jewtuschenko und Wosnesenski wurden von einem Lüftchen hereingeweht, sie begannen auf recht vage Weise Protest zu formulieren, im Schoße des gläsernen Palastes reifte SMOG heran. Blok wurde noch immer nicht gelesen. Seit jener Zeit habe ich also die Arbeit mit Pionieren außerhalb der Schule nicht mehr erlebt. Und jetzt sah ich denselben Alptraum wie zu Zeiten der Spanienbegeisterung und der Kubakrise wieder. Die Kinder führten „Timurs Schwur" auf. Wie damals spielte der kümmerlichste Pionier der ganzen Stadt den Helden. Sie spielen — ich schalte das Gehör ab — eine Gruppe von Burattini, die sich zu einem Kreuzzug irgendwohin aufmachen. Ach, das Kinderbuch — Pinocchio, der den Burattino gebar, eine Freimaurerfantasie im Dienste des Proletariats. All unsere lieben Bücher, wovon sie nicht handelnvon militärischen Geheimnissen, Volksfeinden, die den Trommlerhelden entführen, von Mister Twister, dem rassistischen Nörgler, von den erziehbaren Flaschengeistern des Chottabitsch. Aber auch dieses Bild ist, wie im Falle Dürers, löchrig, aus irgendeinem Grund gehören auch der extrem christliche Anderson, der quälerische Hauff und selust das monarchistische „Städtchen in der Tabakdose" dazu. Offenbar haben sie N. K. damals nicht gut genug zugehört und beachtet, was sie über Märchen dachte. Nebenbei kommt es mir aus irgendeinem Grund so vor, als hätte der Streit über den Anthropomorphismus in der Kinderliteratur vor meinen Augen stattgefunden. Dieser Eindruck hat möglicherweise eine mystische Erklärung — oder vielleicht nicht einmal ganz. Erstens spüre ich eine intime Verbindung mit N. K. Dem nicht genug, seit ihrem Besuch, bei dem die Kinder von den Stühlen fielen, kreiste der Geist der N. K., Kennerin und Freundin der Kinderpsychologie, über unserem Studio. N. K. schaute gleichsam unsichtbar über die Schultern unserer Wera Iwanowna auf die Gedichte der Studioteilnehmer, ähnlich der Muse auf Petrow-Wodkins Achmatowa-Porträt — einer anderen, ebenso dealen Wera Iwanowna mit demselben Kopftuch ... Und mit ihr hängt noch eine andere, frischere Erinnerung zusammen. Die jugendlichen, sehr jungen Poeten, sie sind gerade zehn Jahre alt, verschieben eine Plakatwand mit der Aufschrift „N. K. — Freundin der Studioteilnehmer". Die Wand ist schwer, und einer der Poeten — ich erinnere mich genau —, Mark, dessen lange schwarze Wimpern seinem Gesicht ein regelrecht ungewaschenes Aussehen verliehen, wahrscheinlich war er ungewaschen, zusätzlich zu den Wimpern (das Gefühl sagt mir, daß er jetzt irgendwo am Jordan sitzt), aus Müdigkeit und Langeweile schlägt Mark dem Porträt der N. K. auf die Nase. Welche Froschaugen aus dem Porträt heraussahen! Die Basedowsche Krankheit, erklärte W. I., weshalb sie auch keine Kinder hatten, um sich nicht von der Revolution abzulenken. Mark schlug also zu und wurde dabei ertappt.

— Stillgestanden! sagte W. I.

Wir blieben stehen und stellten uns in einer Reihe auf, Mark wurde unserem richterlichen Urteil vorgeführt.

— Du hast heute das Porträt von N. K geschlagen, morgen drischst du auf das Porträt von W. I. und übermorgen kommst du zu mir und sagst: „Guten Tag, Wera Iwanowna!" — und schlägst mich auf die Nase.

Marks Schicksal war entschieden. Ich stellte mir lebhaft vor, wie er sich aus Kummer über den Ausschluß aus dem Studio den Straßenkindern anschließt, in einem Erziehungsheim landet ... ich begann zu weinen und W. I. zu bitten, ihm zu vergeben. Der Schwerverbrecher selbst war dabei ziemlich lustig und drohte dem Porträt heimlich mit der Faust, wodurch er Urteil und Weitblick der W. I. bestätigte. Das ist also die Grundlage meines Gefühls, bei den pädagogischen Entdeckungen der N. K. unmittelbar präsent gewesen zu sein. Die andere, viel allgemeinere besteht im eigentümlichen Verlauf der historischen Zeit in unserem Land. Das Wort Verlauf ist das Gegenteil dessen, was ich sagen möchte. Fünfzig Jahre lang steht sie auf der Stelle, auf zwei, drei Plätzen, die einen halben Schritt voneinander entfernt sind. Es gibt hierzulande keine einzige Idee von sogenanntem proletarischem Charakter, wie zum Beispiel jene vom Kampf gegen den Anthropomorphismus in der Kinderliteratur, die je vollständig in Vergessenheit geriete. Solche Ideen und Slogans können jederzeit wiederbelebt und aufs neue eingesetzt werden. Und zugleich gibt es auch keine einzige noch so raffinierte „Eroberung" eines humanistischen Fleckchens auf dem Territorium der Kultur, das nicht notwendigerweise enteignet würde. Wo sich die Geisteswissenschaften taktische und Positionsfeinheiten ausdenken und alle byzantinische Schlauheit aufbringen, dort agiert ihr Partner nach ganz anderen Regeln: er schweigt, schweigt, und wirft dann alle Figuren mit einem Schlag um. Das Mäntelchen gehört mir.

Also, die Zeit verläuft in ihren eigenen Bahnen. Denkt man genauer darüber nach, überkommt einen blankes Entsetzen. Wie stark die Staumauer gegen die Geschichte auch immer sein mag, im Unterschied zu den natürlichen Ressourcen ist der Vorrat an Zeit auf der Erde unerschöpflich — was geschieht also, wenn die Zeitmasse, die sich hinter dieser Staumauer angesammelt hat, ihren kritischen Punkt erreicht? Ich habe Angst, mir das vorzustellen. Man muß keine Kassandra sein, um zu wissen, daß unser Ilion verdammt ist. Und das ist nicht einmal der richtige Ausdruck. Einen Gegenstand, der dem Untergang geweiht ist, hat es zumindest in der Vergangenheit gegeben, unsere Sache hat aber seit ihrem Beginn gegen das reale Nichtsein angekämpft, gegen ihre historische Unmöglichkeit ... Wenn wir es noch erleben, werden wir es sehen. Entweder wird es ein qualvolles Sterben sein oder ... In diesem Moment würde ich es vorziehen, in Angola zu sein, an der iranisch-irakischen Grenze, an jedem beliebigen heißen Punkt der Erde. Ich gebe allerdings zu, daß ich dann vermutlich annehmen würde, daß es auf Erden überhaupt keinen einzigen kalten Punkt gibt. Wie irgendein Herrscher einmal versprach: Wenn wir schon gehen müssen, dann werden wir bei unserem Abgang die Tür zuschlagen. Ach, welche Tür ...

— Gott läßt es nicht zu.

— Und warum?


Im Westen leuchtet noch die Erdensonne
Und die Dächer der Städte erglänzen unter ihren Strahlen
Doch hier werden die Häuser schon mit weißen Kreuzen markiert.


Die Erdensonne der Schönheit, der Kultur, der Kunst, die „Selständigkeit des Menschen" usw. usf. sind längst verschwunden, lange vor dem Jahr 1917. Man kann sogar angeben wann. „Und ich brachte das Feuer auf die Erde ..." Entweder die ungegenständliche Sonne der Wahrheit, die Sonne der Heiligkeit — oder Finsternis und die Flamme des Endes, die flammende Nacht des Gerichts. Vermag die Sonne die Demokratie zu retten, die Sonne der Menschenrechte, des Unternehmertums und der verbürgten Freiheiten. Lächerlich. So stellt sich die Sache von hier aus dar und schon lange verhält es sich so — lesen Sie nur einmal die publizistischen Arbeiten von Lew Tolstoj. Das also ist er, der wirkliche Ausweg für die Flöte Hamlets, und dieser Ausweg ist im Unterschied zum verdienstvollen Humanismus und der bürgerlichen Makellosigkeit eines Thomas Mann ein wirklicher Ausweg. Was darauf folgt — der Weg der Heiligkeit (was wahrscheinlich mit dem ersten, oben genannten, praktisch zusammenfällt — das heißt, daß sie dich um die Ecke bringen). Wenn jemand wie ich für diesen Weg nicht geeignet ist, dem empfiehlt es sich (ich tröste mich selbst) zu beten, daß uns ein Heiliger gesandt wird. Und, bevor ich meine Bitte noch ausgesprochen habe, höre ich schon:

— Heuchelei!

<...>
(c) Olga Sedakova: Reise nach Briansk. Zwei Erzählungen, Folio Verlag, Wien – Bozen 2000.
 Reise nach Brjansk.
Eine bescheidene Chronik
Reise nach Tartu und Zurück.
Eine verspätete Chronik
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