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Reise nach Tartu und Zurück.
Eine verspätete Chronik | Das Himmelreich gleicht einem löchrigen Sack.
| Thomas-Evangelium | Uns erreichte die Nachricht, die wir seit langem erwartet hatten: Juri Michailowitsch war gestorben. Er selbst hatte nie verheimlicht, daß er die ihm nach dem Tod Sara Grigorjewnas verbleibenden Jahre als eine Art Fpilog verstand, und wahrscheinlich keinen allzu langen.
Epilog! Im Spätsozialismus bestland das Leben eines Menschen, in der Sprache des klassischen Dramas ausgedrückt, aus zwei Abschnitten: aus einer sich in die Länge ziehenden Exposition und dem unmittelbar darauffolgenden Finale, vielstufig und langjährig, einem Finale in der Länge eines Erwachsenenlebens. Höhepunkte und Auflösungen waren hier nicht vorgesehen: Für solche Kompositionsknoten wären Held und Handlung nötig, vom Epilog gar nicht zu reden. Es kam ohnehin nur selten zur Knüpfung des Handlungsstranges. „Das ganze Leben liegt vor dir ...", so besang der Mensch jener Jahre seine ewig währende Exposition, insgeheim wußte er aber, daß es lange, ach, lange und unwiederbringlich hinter ihm lag. Und was heißt im übrigen hinter ihm — was war dort? War überhaupt etwas, wie ein Klassiker dieser Literatur zu fragen pflegte?
Die Nachricht vom Tod Juri Michailowitschs hatte einen optischen und akustischen Effekt: das Licht erlosch, die Musik der Stimmen zerbröselte und verstummte, die Gäste gingen auseinander. Die Festversammlung war zu Ende. Und draußen in der Dunkelheit, wo wie immer Unwetter und Weglosigkeit herrschen, blicken wir zu den leeren Fenstern und können nicht glauben, daß gerade alles noch gut war.
Das Licht — oder die Brillanz? mag man mich korrigieren und auf dem Unterschied zwischen Licht des Geistes und Brillanz des Intellekts bestehen. Meinetwegen die Brillanz, versuchen Sie aber hierzulande zu brillieren, sogleich zeigt sich, was dabei herauskommt. In den dumpfen Tagen unserer Jugend, in den trüben und glanzlosen Zeiten, umgeben von zungenschwerer Sprachlosigkeit und in unüberwindbarer Isolation — nein, es war kein bloßes Brillieren, es war das Leuchten der Arbeitslampe im fast ausländischen Tartu. Die Brillanz der Lotmanschen Schule, das späte Licht der Aufklärung, die Eleganz des freien Denkens und der Reiz, mit seinesgleichen zu verkehren.
Ach, all die Ungeheuerlichkeit der siebziger Jahre! An der vordersten Linie der ideologischen Front tobte der Kampf für den Frieden: „Arbeiter an der ideologischen Front. Verschärft ..."— so begrüßte das Informationsinstitut den Eintretenden, und dort lieferte auch ich meine streng geheimen Referate über den Stand der amerikanischen Dostojewski-Forschung ab. „Arbeiter an der ideologischen Front! Verschärft ...", was zu verschärfen war, weiß ich nicht mehr. Haben Sie all diese Kreationen heimischer Provenienz schon vergessen? Jede Seifenschale glich einem Panzer, der wegen moralischer Überalterung aus dem Arsenal ausgemustert worden war. In der Regel ließen sich diese Gegenstände schwer öffnen oder schließen, sie verschmutzten die Hände und quetschten die Finger, doch ihren Kampfauftrag erfüllten sie bis zum letzten Atemzug — sie blickten dir mit den Augen der Heimat direkt in die Seele: Hände hoch! Keine Bewegung!
Umgeben von diesen unvergeßlichen Seifenschalen, wie sie auch immer hießen, zwischen Mitbürgern, die ständig auf der Jagd nach Seife und anderen Gegenständen dringlichsten Bedarfs waren, sich dabei mit allen Körperteilen und Gepäckstücken aneinander stießen und unbeschreiblich gekonnt jede an sie gerichtete Frage abwehrten — „Was, haben Sie denn keine Augen im Kopf?" —, mitten in all dem, in den Amtsräumen mit dem Porträt des Generalsekretärs, Begräbnistischdecken und sonstiger Feldausstattung — mit einem Wort
Mitten im sowjetischen Amtszimmer
wo alle verbrannt werden können ...
wie es in den letzten Versen Bloks heißt ... plötzlich die Frage:
— Gnädigste, was kann ich für Sie tun? Etwas Teegebäck gefällig. Professor Lotman, der nämliche Lotman, steht vor mir mit klugem Lächeln und bittet nach dem Seminar zum Tee.
Wer erinnert sich noch, wie es damals war — ich fürchte, nur wenige, und diese würden wie damals sagen, ich lästere und übertreibe, und sich beleidigt geben: „Wer bist du denn eigentlich? Bist du etwa nicht bei uns aufgewachsen?" Aber wer sich wirklich erinnert, wird kaum widersprechen können, daß die bloße Höflichkeit damals nichts Selbstverständliches war. Das allein, so hieß es, genüge aber nicht. Etwas fehle. Zum Beispiel Wärme. Gibt es aber etwa bei Puschkin viel Wärme? Herrscht dort nicht eher subtile Kühle, unübersehbare Distanziertheit:
Und ein liebliches Gebimmel
Tönt an meine Ohren leis ...
Vor dem.............. Purpurhimmel
Glänzt der Schneestaub silberweiß
Wie großartig, daß diese Glocke erklingt, und es ist ihr egal, ob uns das von Nutzen ist oder nicht.
Ach, ich will nicht die Herzen mit dem Wort verbrennen, ich brauche weder glühende Wahrheit noch Schafswärme, auch die geheimnisvollen Windungen unergründlicher Tiefe brauche ich längst nicht mehr — ich will nur kühle, gewaschene Finger auf der Stirn spüren, die leichte Berührung einer reinen Seele. Und Jas bedeutet: die Krankenschwester ist hier, der Arzt in der Nähe, das Spital klirrt vom kühlen Weiß der gestärkten himmlischen Hemden.
Vor dem............... Purpurhimmel
Glänzt der Schneestaub silbertveiß
Das ist es, was für mich letztendlich Freiheit bedeutet: die Möglichkeit, die Reinheit allem anderen vorzuziehen. Kein Epitethon einzusetzen, wenn das einzig richtige nicht in den Sinn kommt.
Vor dem frostigen Purpurhimmel
Glänzt der Schneestaub silbertveiß
ergänzte diese Zeile der Komponist Swiridow. Er umhüllte Puschkins Worte mit Klangzauber, der von jedem sofort als solcher erkannt wird. Es gibt natürlich diese Art von Zauber. Das steht außer Zweifel, wie auch die Tatsache, daß der winterliche Morgen frostig sein kann. Aus irgendeinem Grund aber sagte das Puschkin nicht. Und sein Zauber, wenn es denn einer ist, offenbart sich nicht sofort: er ist nicht von dieser Welt, er erklingt nicht, sondern schweigt und wartet.
Die Kühle der strukturalistischen Terminologie und des kompromißlosen Rationalismus glänzte — wie gläserne Laborgefäße im Wasser, wie das Wort „Skalpell", wie der legendäre Name selbst, kühl und licht, wenn man ihn hört: Lotman.
Juri Michailowitsch war gestorben. Die trüben Anfänge der neuen Zeiten drifteten immer weiter auseinander. Die Stadt Tartu, früher Dorpat, irgendwann Jurjew, lag nicht zum erstenmal im Ausland.
2.
Damit erklärt sich der Umstand, daß die Reise zum Begräbnis Juri Michailowitschs in der estnischen Botschaft begann. Mit jener Höflichkeit, die wir als europäisch bezeichnen, und mit jener Großzügigkeit, die wir für russisch halten, stellte die estnische Regierung unverzüglich allen zum Begräbnis geladenen Gästen kostenlose Einreisevisa aus. Doch die Schwierigkeit bestand nicht nur in der Einreise in das andere Land, man mußte zuerst das eigene verlassen. Auch dafür war ein Visum notwendig, doch niemand hatte hier vor, es ebenso unbürokratisch auszustellen. Lotman war nicht einmal Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften. Mit einer Ausreiseerlaubnis konnte man also erst für die übliche Gedenkmesse am vierzigsten Tag nach dem Tod rechnen.
Um mich nicht in Details zu verlieren: Ein Ausreisevisum benötigten nur jene, die eine bestimmte Art von Reisepaß besaßen — wie ich. Da ich aber beschloß, daß mit Gottes Hilfe alles gutgehen würde, daß ja eine Ausreise schließlich keine Einreise sei, noch dazu bei einer so baldigen Rückkehr, schloß ich mich den glücklichen Besitzern der Reisepässe der anderen Art an. Es war mir bewußt, daß ich mich, was die Rechtsauffassung betrifft, nicht viel von den Muschiks Tschechows unterschied. Oder hat sich vielleicht unser Recht weiterentwickelt und ist nicht mehr rational zu verstehen. Wird es schon mit etwas anderem erfaßt?
3.
Wir waren viele. Leichter zu sagen, wer nicht dabei war, wer von den „Unsrigen" nicht in diesem Abendzug in Richtung Nordwesten fuhr, in ein bis vor kurzem noch „zu uns gehörendes Europa", das jetzt einfach (oder fast einfach) nur Europa war. Es fehlten nur jene, die zur Zeit in der weiten Welt wirkten, an anderen Universitäten, von wo aus gesehen unser Westen im Osten liegt und unsere fast freie Welt „im posttotalitären Raum" angesiedelt ist.
Es gilt, sich erneut die Geschichte und die Geographie zu vergegenwärtigen. Und das geschah natürlich am nächsten Tag beim Totenmahl. Als die Zeit der Schläfrigkeit kam.
Seit meiner Kindheit liebe ich den Eisenbahnschlaf, so wie ich das Scharfe und nicht das Süße mag, wie man Krankheit oder Gefangenschaft etwas abgewinnen kann oder wie Puschkin der Spätherbst und schwindsüchtige Jungfrauen gefielen. Das Reisen und die Krankheit — die besten Tage unseres Lebens, wie der melancholische Psalmist bemerkte, „denn sie fahren schnell dahin". Auch weil man sich in solchen Zeiten mit der eigenen Unschuld trösten kann: mehr läßt sich jetzt nicht tun, der Gang der Ereignisse ist dir vollkommen aus der Hand genommen. Und wenn das Leben wirklich ein Traum ist, so erscheinen die Episoden der Krankheit im Traum auf dem obersten wackeligen Regal.
So wird einer derjenigen, die jetzt im Zug das letzte Referat von Awerinzew und andere intellektuelle Neuigkeiten diskutieren, morgen das Wort ergreifen und kundtun, er schäme sich jetzt nicht mehr, in Estland zu sein, denn er sei zum erstenmal als Gast und nicht als Besatzer gekommen. Alle zeigten sich mit ihm solidarisch und wünschten dem von uns endlich befreiten Estland das Beste.
Es war auch früher spürbar freier von uns als wir selbst. Das verwunderte die Besucher immer aufs neue. Als ich in meiner Studienzeit in der Universität anstelle der üblichen Statuen Euripides erblickte, sah ich mich verstohlen um: Sieht vielleicht jemand, was ich sehe. Das war reiner als ein verbotenes Buch zu lesen! Die Statuen sind die fundamentale Sprache, die die Mächtigen mit dem Volk sprechen, schrieb der verrückte Chlebnikow. Welche Macht sprach eigentlich damals aus diesem verstörenden Euripides beim Eingang?
Übrigens, wie ich in der Chronik einer anderen, lange zurückliegenden Reise schrieb, war auch Moskau von uns freier als Brjansk oder Tscheljabinsk. Und Brjansk gehörte wiederum nicht so ganz zu uns. Endgültig zu uns gehörten wahrscheinlich die mittelasiatischen Baumwollspeicher, wo die Macht mit dem Volk nicht nur mittels Statuen redete — in ihrer Sprache nahmen Statuen den bescheidenen Platz untergeordneter Satzteile ein, während Subjekt und Prädikat kräftiger ausfielen: Unter den rituellen Wandbildern von Baumwollpflückern schlug man mit der Peitsche zu, und ihrer Ehefrauen nahmen sich die Parteibonzen an.
Wie man weiß, war diese erste, mittlerweile in Vergessenheit geratene Enthüllung (die sogenannte „Baumwollaffäre") die Spitze des Eisbergs, der Beginn einer Lawine von Enthüllungen der Nomenklatura-Missetaten. Diese Lawine hat aber im Gegensatz zu der veritablen Schneelawine in den Bergen Swanetiens (die fast zur gleichen Zeit eine ganze Reihe von Naturkatastrophen einleitete) niemanden verschüttet. Sie raste zu Tal, doch alle blieben, wo sie waren, nur einige rote Armbinden und einschlägige Propagandaslogans nahm sie mit sich. Sie ließ sogar den berüchtigten unbestatteten Leichnam des Führers im Zentrum des Vaterlands auf seinem Platz. Und das bestätigt — in Fortsetzung der semiotischen Diskussionen von Tartu — auf offensichtlichste Art, daß neben Zeichen und Zeichensystemen auch Symbole existieren: als Krafteinheiten und nicht als semantische Einheiten, die keine Systeme, sondern Kraftfelder und Mythen bilden und durch nichts in Zeichen zu verwandeln sind. Sie gehören nicht einer zweiten oder sekundären Realität an, sondern der allerersten. Wenn nicht sogar der Vorrealität.
Also, in dieses von uns und unseren unbestatteten Symbolen befreite Estland reiste die Elite des Geistes und der Kultur, die zu diesem Zeitpunkt nicht in Ungnade gefallen war, sondern im Gegenteil durch diverse Titel geehrt und zur Mitregentschaft aufgefordert wurde. Unter uns befanden sich Abgeordnete und sogar ein Berater des Präsidenten! Erst vor kurzem waren die Schüsse beim Weißen Haus verklungen. Auch das war ein Gesprächsthema hinter den Trennwänden der Abteile.
Die Zeit sank allmählich wie ein Tal in die Ebene in einen friedlichen Reiseschlaf. Ins mechanische Meer, in die Gänge des krankhaften Schlummers, in die Verzweigungen seines Labyrinthes mit goldenen Kerzenlichtern in der fernen Tiefe.
4.
Lang darin zu irren, war uns nicht beschieden. Um sechs Uhr früh hielt der Zug an, plötzlich und abrupt, wie man an einer Staatsgrenze anzuhalten hat. Petschory Pskowskie.
— Woran grenzt Rußland? fragte mich ein Gelähmter.
— Rußland grenzt an Gott, antwortete, ich.
Das schrieb Rilke mit einem starken Beigeschmack von Jugendstil. Gegenwärtig grenzt Rußland wieder an Estland, und diese neue Grenze ist wieder so eine militärische Angele genheit wie alle Grenzen Rußlands und wird genauso unablässig und wachsam geschützt. Man versuche sie nur zu überqueren und in welches andere Land auch immer, das nicht an Gott grenzt, zu gelangen. Einem solchen Versuch ist diese Erzählung gewidmet. Und sie wird, wie nicht anders zu erwarten, tragisch sein.
Die Grenzmannschaft, angeführt vom bösen Häuptling, kontrollierte die Pässe, entdeckte sogleich die Missetäter und machte sie unschädlich. Wir waren unser vier, mit alten Pässen ohne Ausreisevisum. Wir wurden des Zuges verwiesen. Der setzte sich wieder in Bewegung, Richtung Baltikum, nach Tartu, zum letzten Lebewohl.
5.
Ein vernünftiger Autor würde an dieser Stelle aufhören, Das Sujet ist erschöpft. Wir sollten mit dem Abendzug nach Moskau zurückfahren. Die Jugend entscheidet aber anders, und alle meine drei Mitreisenden waren jung, letztberufene Schüler von „JurMich" (wie sie ihn liebevoll nannten). Sie dachten auch nicht lange nach, denn sie überquerten nicht zum erstenmal die frische Grenze und wußten, daß uns eine Wegstunde von Estland trennte. Es gebe einen anderen Weg, den Geheimpfad der Schmuggler, gerade dieser sei aber von den Grenzsoldaten bewacht. Nachdem sie uns aus dem Zug geworfen hatten, begaben diese sich höchstwahrscheinlich dorthin, so daß wir kein Risiko eingehen würden.
Und nun machten wir uns auf den Schwellen, dem Zug nach, auf den Weg und auf die Suche nach gemeinsamen Bekannten und gemeinsamen Erinnerungen. Der Morgen stand klar, schnellen Schrittes zu gehen war ein Vergnügen. Das Begräbnis war für zwölf Uhr angesetzt.
6.
An der estnischen Grenze wurden wir höflich empfangen (diesen Ausdruck werde ich in einem dramatischeren Kontext später wiederholen müssen). Die Grenzbeamten warfen einen Blick auf die Liste der geladenen Gäste, die bei ihnen auf dem Tisch lag: wir waren darin angeführt. Meine Begleiter sprachen Estnisch. Das und, wie es mir schien, unser ungezwungener Umgang mit der vaterländischen Grenze bereitete den Gastgebern sichtlich Vergnügen. Beim Schlagbaum fanden sie ein Auto, das nach Tartu fuhr, und baten den Fahrer, uns mitzunehmen. Als dieser den Grund unserer Reise erfuhr, weigerte er sich, Geld anzunehmen. Ein günstiger Wind blies in unsere Segel. Wir kamen lange vor Beginn der Zeremonie an, sodaß die Damen noch die Trauerkleider in Ordnung bringen konnten.
7.
Lateinische Universitätshymnen wurden gesungen. Die Orgel spielte Bach. Niemand sprach. So hat es Juri Michailowitsch gewollt. Das letzte Wort des Abschieds wurde der Musik überlassen.
Laßt hören uns die Donnerpredigt
Als Enkel eines J. S. Bach ...
Selbst der um fünf Minuten verspätete Präsident Estlands sprach nicht.
— Wir beginnen um Punkt zwölf, sagte Ann Malz, zeigen wir ihnen, wer hier Europa ist!
Ann, die enthusiastische Mitstreiterin des Professors, wollte nochmals die Ehre Rußlands in den Augen ihrer Landsleute retten.
8.
Ich hatte Ann fast zehn Jahre nicht gesehen. Ihre Schönheit war noch verblüffender geworden und durch die Würde der Trauer ins Unerträgliche gesteigert.
Pasternak schreibt in seinem „Geleitbrief", daß uns alles Schöne unermeßlich groß erscheint. Es sind andere Dinge, die bei mir eine solche Verzerrung des Maßes hervorrufen: mir erscheint unermeßlich groß alles, was Mitleid erregt, oder genauer — das, was an der Schwelle des Mitleids steht. Das Nichtige und Elende, das man naturgemäß verabscheuen und ein für alle Mal aus den Augen verbannen sollte, was aber aus irgendwelchen Gründen unmöglich ist. Und seine Präsenz, seine unvermeidbare Sichtbarkeit, die so sehr in Verlegenheit bringt, bekommt eine unglaubliche Größe und ein unüberwindbares Gewicht: Mach doch etwas mit mir! — ruft es dem Herzen zu, und das Herz findet als einzige Antwort: Mitleid. Und erst dann nimmt dieses Unerträgliche ein erträgliches Ausmaß an. Es wird der Erde übergeben, es ruht im Mitleid. Requiem aeternam. Ewige Ruhe gib ihnen vor meinem Unglück, vor meiner Gereiztheit. Die mitleidige Erde wird sie beruhigen und uns miteinander versöhnen.
Natürlich ist das eine schlechte Welt, und ich würde ihr einen guten Krieg vorziehen. Es ist wie eine Landschaft ohne Himmel, denn im Himmel ist der Zorn. Der reine Zorn — das ist es, was in Wirklichkeit alles wieder beleben könnte. Und dieser reine Zorn, die reinigende Geißel, ist nur Propheten und Heiligen gegeben. Uns aber bleibt nur die gewöhnliche Tat, die halbe Sache, die Tatenlosigkeit: Wörter winden, Kränze flechten, die sich aus irgendeinem Grund immer als Grabkränze erweisen.
Was die Schönheit betrifft, so erscheint mir diese weder groß noch berauschend klein, nur unsichtbar: steht sie vor deinen Augen, ist es, als würde sie dir in den Rücken blicken, an jene Stelle zwischen den Schulterblättern, die beim unsterblichen Heros sterblich geblieben war. Er betritt den Wald, und die Waldvögel singen in einer Sprache, die er versteht: Siegfried! Vergiß die verwundbare Stelle, die Zielscheibe am Rücken, nicht ... Stimme der Schönheit.
Alle wußten, daß Ann nicht bloß eine Mitarbeiterin am Lehrstuhl des legendären Lotman war. Sie war dessen Seele und Muse. Als Tochter des letzten Präsidenten im freien Estland vergötterten sie auch die Esten. Und wenn wir aus Moskau um den neuen Band mit den begehrten Symposiumbeiträgen baten, schrieben wir auf den Briefumschlägen als Empfänger nur „an Ann Malz". Hätte Juri Michailowitschs Muse (und er hatte zweifelsohne eine Muse) reale Gestalt angenommen, wäre dabei sicherlich Ann Malz entstanden. Die makellose Ann Malz mit ihrer raffinierten Frisur, die sowohl an Athenes Helm als auch an die kunstvollen Locken Botticellis erinnerte.
Jetzt, in der Stunde des Abschieds, trat die ganze Schönheit Arms zutage, auf eine feierliche, ja fast triumphale Weise, die den Namen „zum letztenmal" trägt: Zum letztenmal all das sein, was war und was nie auf einmal war. Sehet, wenn ihr euch vorher nicht satt gesehen habt. Das Außergewöhnliche erhebt sich aus
dem Alltäglichen wie Anadyomene aus den Meereswellen.
9.
Alle schwiegen. Die Ehrenwache beim Grab wechselte sich ab, unter den Klängen von Bach traten die vielen Menschen leise zum Abschied näher. Die Esten standen schön und neigten sich schön über das Grab und ließen die Blumen schön fallen. Die Russen krümmten sich und wußten nicht recht, was sie mit dem Rücken und den Schultern tun sollten. Der rituelle Kodex der Posen und Gesten hat unser soziales Dasein längst verlassen, in dieser Fremdsprache, in der Sprache der Körperetikette, brachten sie kein Wort heraus. Die Kirchenleute würden es natürlich können, aber solche schienen nicht dabeizusein, oder würden versuchen — wie einer meiner jungen Mitreisenden —, sich anzupassen und die zum Geschehen passende Bewegung nur in Gedanken auszuführen.
<...> | (c) Olga Sedakova: Reise nach Briansk. Zwei Erzählungen, Folio Verlag, Wien – Bozen 2000. | |
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